zu schreiben. Über Hodgkin. Und wie ich diesen Hodgkin wieder los werde. Weil mir selbst die Erzählungen von anderen bis zu einem gewissen Punkt sehr geholfen haben, zu sehen, andere schaffen das, man kann es schaffen. Bis zu einem gewissen Punkt – denn nicht jede Erzählung motiviert oder nimmt Angst. Dazu ist die Krankheit – auch wenn sie den Sechser im Lotto unter den Krebsen bedeutet – zu schwer und die Therapie doch recht aggressiv. Schreiben heißt, sich mit den Dingen, über die man schreibt, auseinanderzusetzen. Schreiben erfordert Konzentration, eine funktionierende Motorik und halbwegs Gefühl in den Fingern. Das Therapieschema für Hodgkin im fortgeschrittenen Stadium ist jedenfalls nicht unbedingt förderlich dabei. Aber es wird besser. So werden manche Phasen rückblickend erzählt. Und das ist ok.
Wer erinnert sich noch an den Duracell-Hasen? Innerlich scheint der Körper auf Hochtouren zu laufen und dabei gleichzeitig alle Energie zu verbrauchen, die sich finden lässt. Aus meinem Vorhaben, jeden Tag zu laufen (i. S. Walking), sind kleine langsame Spaziergänge geworden, für mich sind es Abschnitte eines Marathons und ich bin über jeden bewältigten Abschnitt froh. Diese Krankheit erdet. Sie demütigt. Und sie lehrt eine der überwältigendsten Emotionen: Angst.
Krebs ist einfach Scheisse.
Nach dem ersten Zyklus Chemotherapie bekomme ich eine leise Ahnung, was das heißt, Krebs bekämpfen. „Es ist eine gezielte Vergiftung des Körpers“ sagte der Notarzt vor zwei Tagen. Ich habe das verdrängt, versuche es eigentlich immer noch zu verdrängen. Die Tatsache, dass der Körper gezwungen ist an mehreren Fronten zu kämpfen. Mit dem Krebs und mit dem Gift. Ich hatte das Glück, bisher nie wirklich krank gewesen zu sein und habe das, so stelle ich jetzt erschrocken fest, nicht als Geschenk, sondern als Selbstverständlichkeit angesehen, ja, auch als eine Verpflichtung. Krank sein heißt Schwäche und Schwäche ist keine Option.
Ich hatte das Privileg, die ersten drei Infusionstage in der Tagesklinik im Bett absolvieren zu dürfen und nun weiß ich auch, warum. Vor den eigentlichen Infusionen gibt es Kochsalzlösung, Infusionsbeutel mit Medikamenten zum Nierenschutz, Kortison und gegen Übelkeit. Dann wieder Kochsalzlösung und dann die eigentliche „Therapie“. Zwei Beutel und eine größere Spritze, letztere darf nur ein Arzt verabreichen. Danach wieder Kochsalzlösung und was zum Nachspülen. „Sich aufgeschwemmt fühlen“ bekommt hier eine völlig neue Bedeutung. Und dann dieser Geruch in der Nase wenn der Port gespült wird.
„Es ist eine andere Übelkeit“ sagte mir eine Schwester in der Tagesklinik, „warten Sie nicht drauf, sie muss nicht kommen“. Aber sie kam. Tag zwei also mit Krankentransport hin und zurück. Hatte ich erwähnt, dass ich in der vierten Etage ohne Fahrstuhl wohne? Meinen höchsten Respekt an die Besatzung, die mich klaglos hochtrugen. Ich. Musste. Die. Treppe . Zu. Meiner. Wohnung. Getragen. Werden. Getragen! Vor ein paar Monaten bin ich noch auf Zweitausendern herumgestiefelt und im Januar 20 km Langlauf …
Tag 2 ging es dann also erst einmal mit Elektrolytlösungen weiter, noch mehr Flüssigkeit, noch weiter aufgeschwemmt. Tag 3 konnte ich aber schon wieder selber die Treppe herunter und hoch. An diesen beiden Tagen gibts die entspannteren Therapien. 4 Tage nur Tabletten ohne Infusionen, den Hauch von Optimismus, der sich eingestellt hatte, verdarb das Labor. Die Leukos lagen im Nullkommabereich, also prophylaktische Antibiose. Fieber messen.
Tag 8 durfte ich dann in den Sesselbereich. Rapsfeld mit Meerblick – das heißt ein Fensterplatz vor der Rapsfeldtapete im Tagesklinik-Jargon. Man kann mit laufender Infusion sogar essen, bisher hatte ich das nur skeptisch beobachtet. Nun konnte ich es selber testen. Danach noch in die Apotheke – allein laufen, das Stück vom Haus 31 zur Apotheke am Parkhaus, ohne Schwindel, neue Rezepte einlösen, Sonnenblocker kaufen – und wieder zurück. Den leichten Anfall von Optimismus dämpften dann gleich mal wieder die neuen Nebenwirkungen. Wie geht es Dir. Ich weiß nicht was ich antworten soll. Vielleicht schaffe ich morgen mal so etwas wie einen Spaziergang.
Anfangs waren die Geschichten der Anderen in Blogs, auf TikTok und Insta irgendwie tröstlich. Da gibts andere Betroffene und deren Erzählungen helfen dabei, sich eine Vorstellung davon zu machen von dem, was auf einen zukommt. Anders als Einverständniserklärungen, Aufklärungshefte, Beipackzettel, Chemopläne. Nur gibt es da ein großes Aber. Ein Beispiel. Ich las auf einem Instaaccount, der anderen Krebsbetroffenen Mut machen soll, ein wenig herum. Bis – ja bis ich auf einen Beitrag stieß, in dem es um ein Arztgespräch ging. Die Autorin schreibt sinngemäß: Die Ärztin habe ihr die gute Nachricht verkündet, es sei keine Chemotherapie nötig und die Autorin beschreibt ihre Dankbarkeit, dass ihr nun doch „das Schlimmste“ erspart bliebe.
Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Nur: Mein Krebs kann eben nicht operiert oder bestrahlt werden, meiner lässt sich nur „weggiften“. Eben mit Chemotherapie. Sicher, es gehört zu den Bewältigungsstrategien, sich selbst immer wieder klar zu machen, es könnte alles schlimmer sein und im Grunde habe man selbst ja immer noch Glück, andere sind schlechter dran. Das Schreiben, posten, bloggen, vloggen über Krebs, das Öffentlichmachen ist am Ende ja auch „nur“ eine Bewältigungsstrategie. Vielleicht muss man sich das selbst immer wieder klar machen, damit die Erfahrungsberichte der Anderen eine Hilfe sein können. Und kein Maßstab, wie beschissen man selbst* dran ist.
*Ich, die Glück hat, weil sie sich den „besten aller Krebse“ heraussuchte (Zitat aus irgend einem der vielen Arztgespräche).
Auf einmal wird das Leben zum Wartezimmer. Ich hatte davon gelesen, der Kampf gegen den Krebs sei nicht nur ein physischer, sondern auch ein psychischer. Und das stimmt. Durch die Diagnose wird man aus der Bahn geworfen, das bisherige Leben gerät völlig aus den Fugen, aus dem bisherigen Leben herausgerissen, in ein Wartezimmer gesperrt. Es wandelt sich, das Zimmer. Mal ist es das Wartezimmer einer onkologischen Ambulanz, mal das der Chirurgie, mal das vom Hausarzt, manchmal die eigene Wohnung. Warten auf Untersuchungen, auf Arztgespräche, auf Blutabnahmen, Eingriffe und auf die Therapie. Mein ständiger Begleiter: Angst. Auf Beipackzetteln, Einverständniserklärungen, in Aufklärungsgesprächen: ständig konfrontiert mit Risiken, Komplikationen, es ist quasi alles potentiell tödlich, was ich tun muss und womit ich mich einverstanden erklären soll. Dass ich mich körperlich eigentlich ganz gesund fühle, macht es nicht einfacher. Ich muss mir immer wieder sagen: Du bist nicht gesund. Du bist krank. Gesund ist erst einmal vorbei und diese Zellen, die da so ausgetickt sind, sind eine Zeitbombe, die dich über kurz oder lang umbringt. Dabei soll man doch optimistisch bleiben, zuversichtlich. Hoffnungsvoll. Krebs macht Angst. Angst selbst vorm Hoffnung haben. Vielleicht ist es ja ein frühes Stadium – „Sie sind fortgeschritten“. Vielleicht wird es nicht die ganz aggressive Chemotherapie – „Sie werden nach dem Schema BEACopp eskaliert behandelt“. Zuversicht. Ich gäbe viel für etwas Zuversicht.
Ich habe noch nie so viel Zeit in Wartezimmern verbracht. Wartezimmer sind besondere Orte. Vor allem die in Krankenhäusern und deren Ambulanzen.
Der Wartebereich in der Ambulanz der HNO-Klinik der Uniklinik. Modern, sehr blaugrau. Unaufgeregte Geschäftigkeit, viele Untersuchungszimmer. Zuweilen bittet eine Stimme über Lautsprecher Patient*innen in den Keller. Zur Audiometrie. Eine Ärztin im Praktikum folgt ihrer Assistenzärztin auf Schritt und tritt. Trägt mit Stolz den Kittel, irgendwann wird sie auch ihre Arme nicht mehr ständig vor oder hinter sich verschränken, sondern lässig in die Tasche stecken. Es werden Termine gesucht und vereinbart. Ein News-Bildschirm einer örtlichen Tageszeitung zeigt, dass es stürmisches Wetter gibt. Ein Vater beschäftigt sich liebevoll mit seinem Sohn und widerlegt wohl so manche klassistische Zuschreibung. Ich bin dran.
Man hat noch anderes mit mir vor an diesem Tag. Ein Besuch in der Angiologie. Es könne dauern. Ich habe nichts weiter vor, sage ich, froh, dass hier alles Hand in Hand läuft. Folgen Sie bitte der schwarzen Linie in den Wartebereich. Ein Übergang zwischen zwei älteren Gebäuden, Glasfront, die Stühle aufgereiht, dazwischen Grünpflanzen.
Mitwartende anzuschauen erfordert hier eine auf Dauer unangenehme Halsdrehung. Das ist gut. Hin und wieder laufen Ärzt*innen vorbei. Zwei ältere Damen unterhalten sich, zufrieden mit der Blutabnahme, die richtig gut ausgeführt worden sein muss, „und dabei war das eine ganz junge“. Die Zeit scheint hier schneller zu vergehen, vielleicht liegt es an den Raben. Oder daran, dass man den Wind hier sehr hört, der so stark weht, dass der Gang manchmal knackende Geräusche macht. Sitzen und aus dem Fenster schauen. Warten. Ich bin dran.
Krebs. Haarausfall scheint bei den meisten Menschen das größte Problem darzustellen, Folge von Bestrahlungen oder Chemotherapie. Je mehr mir meine Diagnose bewusst wird frage ich mich, warum dreht sich alles um Haare? Die Diagnose Krebs bedeutet erst einmal einen riesigen Kontrollverlust. Der eigene Körper produziert irgendwelche Zellhaufen, die ihn auf längere Sicht, je nach Krebsform, zerstören. Ohne dass es irgend einen sicheren Anlass, einen Auslöser gäbe, ohne dass ich davon etwas wusste. Oder etwas tun kann. Es beeinflussen kann. Mit der Diagnose setzt sich etwas in Gang, worüber man keine Kontrolle hat. Man soll kämpfen. Krebs kommt nicht von außen. Der Gegner bin ich.
Es gibt wenig, was man tun kann, um wieder die Kontrolle zu bekommen. Wichtig ist das aber, um sich nicht völlig hilflos zu fühlen. Zu dem Wenigen gehört ein Friseurbesuch. Der in diesem Falle quasi zu den psychoonkologischen Therapiemethoden zählen sollte. So wie der Blog auch.
der seit sich seit Herbst, nach einer schwereren Infektion entschied, zu bleiben. Der in jeder Besprechung für pikierte Blicke sorgte, aber auch dafür, dass niemand das Beibehalten des Masketragens kommentierte. Der Husten war Begleiter einer Reise nach Rom, DER Reise nach Rom und der sich in den Bergen auf der Loipe kooperativ zeigte und ruhig blieb.
Eher unambitioniert der Besuch beim Hausarzt, der eine Röntgenuntersuchung veranlasste. Unvergesslich das Gesicht des Radiologen, der mich nach der Röntgenuntersuchung zu sich rief. Eigentlich wollte ich ja schnell wieder weg sein. Aber – da war was. Was Größeres. Also CT. Jetzt sofort. Nicht die Lunge. Gut. Aber etwas anderes, nichts Gutes jedenfalls. Ein „Hodgkin vermutlich, damit gehn Se mal schön in die Uniklinik, die kriegen das hin“. Noch nie gehört vorher. Mit dem handgeschriebenen Befund zum Hausarzt. In der Straßenbahn doch mal googeln. Hodgkin. Lymphdrüsenkrebs? Ich. Ihr spinnt.
Zurück zum Hausarzt, dort wieder raus mit einer Einweisung ins Krankenhaus. Blutuntersuchungen. Ultraschall. Noch ein CT und eine Biopsie. Eine „Stanzbiopsie“. Medizinersprache schwankt auch so ein bisschen zwischen Zuckerwatte und Vorschlaghammer. Raumforderung ist Zuckerwatte. Stanzbiopsie ist Vorschlaghammer. Im Brief der Klinik steht, Patientin sei freundlich und zugewandt gewesen. Sie stand neben sich entspricht wohl eher der Wahrheit. Das Warten beginnt. Und mit dem Warten all die gutgemeinten Wünsche und falschen Hoffnungen. Es kann doch auch gutartig sein. Kann sein, wahrscheinlicher aber ist eben Krebs. Man kann doch operieren. Nein, Lymphdrüsenkrebs ist ein Systemkrebs. Der Gewebebefund kann doch nicht so lange dauern. Doch. Kann er.
Ein paar Tage später der Termin in der onkologischen Ambulanz. Es ist Krebs. Weitere Untersuchungen stehen an. Nochmal ein Ultraschall, die Pathologen hätten doch gern einen vollständigen auffälligen Lymphknoten. Und ein PET-MRT um zu sehen, ob der Krebs sich schon breit gemacht hat. Herz und Lunge, ob sie eine Chemo verkraften.
Gelassenheit, hat man mir gesagt, ab 50 wird man gelassener. Dass ich das auf die harte Tour lernen soll, damit habe ich nicht gerechnet.
Verwaltungswissenschaft ist ein nettes Hobby. Hin und wieder stolpert man über Interessantes: Zum Beispiel ein Buch über die Notwendigkeit von Kommunalpolitikmarketing.
Eher ein Zufallsfund war die Veröffentlichung „Marketing für Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik – Kommunikations- und Partizipationsstrategien für das Gemeinwohl vor Ort“ von Thomas Meyer-Breyländer (Breyer-Mayländer, 2019).
Der Autor konstatiert im ersten Kapitel „Sachstand und Problemstellung: Das (Des)-Interesse an kommunalen Themen“, es gäbe zwar ein Interesse an lokalen Geschehnissen. Er beruft sich unter anderem auf eine Allensbach-Studie, die leider aufgrund der lückenhaften Quellenangabe nicht nachrecherchierbar war. Aber da gibt es dennoch etwas recht aktuelles bei Statista von Allensbach. Nämlich: das Interesse der Bevölkerung in Deutschland an lokalen Ereignissen bzw. dem Geschehen am Ort von 2018 bis 2022 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/170952/umfrage/interesse-fuer-lokale-ereignisse/. Es lässt sich jedenfalls aus diesen Daten in diesem Zeitraum erst einmal kein abnehmendes Interesse an lokalen Geschehnissen festmachen. Allerdings – lokales Geschehen ≠ Kommunalpolitik. Und so verweist auch Breyer-Mayländer auf die Wahlbeteiligung, die auf kommunaler Ebene nicht gerade für ausgeprägtes Interesse Kommunalpolitik spricht. Der Autor nennt als weitere Belege die These des Desinteresses an Kommunalpolitik weiter mit dem zunehmenden „Fachkräftemangel“, also der abnehmenden Bereitschaft, sich zur Wahl um politische Ämter zu stellen, kommunalpolitisch zu engagieren. Im Beitrag werden als mögliche Ursachen eine sehr starke Konsensorientierung in der Lokalpolitik und die Veränderungen in der Medienlandschaft, die unter anderem zu einer Verdrängung und Schrumpfung der Lokalberichterstattung über Kommunalpolitik führten und führen, benannt Diese Konsensorientierung sei vor allem in kleineren Gemeinden zu verzeichnen.
Hier zeigen sich erste Widersprüche. Die Wahlbeteiligung ist gerade in kleineren Städten und Gemeinden eher höher als in großen Städten. Damit ist der Zusammenhang, Politik ist zu konsensorientiert und deshalb ist die Motivation zu wählen geringer, zumindest zu hinterfragen. Auch die Verdrängung der Lokalberichterstattung als Faktor für Desinteresse an Kommunalpolitik ist eine etwas steile These, die man dann doch genauer überprüfen müsste. Jedoch: die These, dass sich Menschen interessieren sich sehr wohl für das, was in ihrem Umfeld passiert, allerdings eben nicht unbedingt für Kommunalpolitik, würde ich unterstützen. Und dass es hier nicht nur um ein mit Marketing behebbares Imageproblem, sondern um den fundamentalen Ansatz der demokratischen kommunalen Selbstverwaltung geht.
Partizipationsparadox
Die Wahlbeteiligung insbesondere auf kommunaler Ebene hat tatsächlich abgenommen (Grotz, Schroeder, 2021). Trotz des Ausbaus der politischen Beteiligungsmöglichkeiten ist die Wahlbeteiligung auf kommunaler Ebene am stärksten zurück gegangen (Vetter und Remer-Bollow 2017, S. 196).
Auch das Vertrauen in die kommunalen Institutionen hat deutlich abgenommen. Restriktiv und vertrauensmindernd wirken insbesondere die Ausdünnung kommunaler Angebote freiwilliger öffentlicher Leistungen aus finanziellen Gründen und und Maßnahmen des staatlichen Gesetzgebers, die einen Rückbau von Wohlfahrtsstaatlichkeit beinhalten, die durch die kommunale Ebene vollzogen werden müssen. (Holtmann 2013, S. 793) Hiermit ist also die These widerlegt, es zähle allein das Sparsamkeitsdogma und die Wählenden belohnten dies. Tun sie eben gerade nicht.
Die Wahlbeteiligung unterscheidet sich innerhalb und zwischen den Kommunen. Innerhalb der Städte ist insbesondere ist vor allem die soziale Lage entscheidend. Man kann es auf die Formel bringen: Je prekärer die soziale Situation in einem Stadtteil, desto geringer fällt dort die Wahlbeteiligung aus. Und: wirksam ist das, was sich als soziale Kontrolle beschreiben lässt. In kleineren Gemeinden, wo die Akteur*innen personlich bekannt sind, ist die Wahlbeteiligung tendenziell höher als in Städten mit mehr Anonymität (Heinisch und Mühlböck 2016).
Politisches Desinteresse? Eher nicht. So genannte vordemokratische Verfahren haben zugenommen. Der Bürgerbegehrensbericht 2020 von Mehr Demokratie e.V. zeigt, dass in größeren Städten überdurchschnittlich häufig Bürgerbegehren und Ratsreferenden stattfanden:
„In Deutschland haben 70 Prozent aller Gemeinden weniger als 5.000 Einwohner/-innen. In diesen kleinen Gemeinden wurden jedoch nur 31 Prozent aller Verfahren durchgeführt. 14,6 Prozent aller Verfahren fanden in größeren Städten und Landkreisen mit mehr als 50.000 Einwohner/innen statt. Diese machen lediglich 6,1 Prozent aller Gemeinden und Landkreise aus – ziehen also überdurchschnittlich viele Verfahren auf sich.“
2020-09-28_Bu__rgerbegehrensbericht_Web.pdf (mehr-demokratie.de)https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2020-09-28_Bu__rgerbegehrensbericht_Web.pdf
Warum das so ist, begründen die Autor*innen wie folgt:
„- In kleinen Gemeinden haben die Bürger/innen bessere Einflussmöglichkeiten auf die „etablierte“ Politik als in größeren Städten. Die Kommunikation ist einfacher und direkter, Probleme und Konflikte können so frühzeitiger erkannt und diskutiert werden. Es kommt gar nicht erst zu einem Bürgerbegehren.
– Erkenntnisse der politischen Kulturforschung zeigen, dass in vielen kleinen Gemeinden Pflicht und Akzeptanzwerte dominieren. Die etablierte Politik und die lokalen Autoritäten werden so weniger in Frage gestellt. Die Folge: Bürgerbegehren werden seltener angewandt.
– Mit der Einwohnerzahl wachsen die Aufgaben einer Kommune. Es gibt somit mehr potenzielle Themen für Bürgerbegehren – etwa Bäder, Kitas, Schulen oder Jugendeinrichtungen.“
2020-09-28_Bu__rgerbegehrensbericht_Web.pdf (mehr-demokratie.de)
Im Zweifelsfall bedienen sich die Bürger*innen einer größeren Stadt also eher vordemokratischer Verfahren als dem Wahlrecht und dann gleicht sich das alles irgendwie aus? So einfach ist es dann auch wieder nicht. Politische Partizipation hängt sehr stark mit dem sozioökonomischen Status zusammen. Nichtwähler*innen sind nicht unbedingt diejenigen, die als Ausgleich ein Bürgerbegehren auf den Weg bringen. Es bleibt komplex.
bürgerschaftliches Engagement und Gemeinwohl
Breyer-Mayländer geht in seinem Buch auch auf das bürgerschaftliche Engagement ein. Denn oftmals bringen sich Engagierte auch in Beteiligungs. und Entscheidungsprozesse ein. Bürgerschaftliches Engagement ist ein so strapazierter wie unklarer abgegrenzter Begriff für freiwilliges Engagement – Retter der Demokratie, Basis des Gemeinwesens. Die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ definiert bürgerschaftliches Engagement folgendermaßen:
Bürgerschaftliches Engagement ist eine freiwillige, nicht auf das Erzielen eines persönlichen materiellen Gewinns gerichtete, auf das Gemeinwohl hin orientierte, kooperative Tätigkeit. Sie entfaltet sich in der Regel in Organisationen und Institutionen im öffentlichen Raum der Bürgergesellschaft. Selbstorganisation, Selbstermächtigung
BERICHT
und Bürgerrechte sind die Fundamente einer Teilhabe und
Mitgestaltung der Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungsprozessen. Bürgerschaftliches Engagement schafft Sozialkapital, trägt damit zur Verbesserung der gesellschaftlichen Wohlfahrt bei und entwickelt sich, da es von den Bürgerinnen und Bürgern ständig aus der Erfahrung ihres Lebensalltags gespeist wird, als offener gesellschaftlicher Lernprozess. In dieser Qualität liegt ein Eigensinn, der über den Beitrag zum Zusammenhalt von
Gesellschaft und politischem Gemeinwesen hinausgeht.
DER ENQUETE-KOMMISSION
„ZUKUNFT DES BÜRGERSCHAFTLICHEN ENGAGEMENTS“, 2002 14_8900_GESAMT.PDF (BUNDESTAG.DE)
Im Bericht der Enquete-Kommission heißt es weiter:
Jedoch ist nicht jedes freiwillige, nicht auf Gewinn gerichtetes Engagement als bürgerschaftliches Engagement zu bezeichnen. […] Engagement z.B. von radikalen Gruppen, das darauf gerichtet ist, der Bürgergesellschaft zu schaden oder Gruppen aus ihr auszugrenzen, fällt nicht unter den Begriff „bürgerschaftliches Engagement“. Gleiches gilt für nach außen abgedichtete Beziehungsnetzwerke, die dazu benutzt
BERICHT
werden, Sonderinteressen durchzusetzen.
DER ENQUETE-KOMMISSION
„ZUKUNFT DES BÜRGERSCHAFTLICHEN ENGAGEMENTS“, 2002 14_8900_GESAMT.PDF (BUNDESTAG.DE)
Was aber ist nun Gemeinwohl? Auch dieser Begriff ist so überstrapaziert wie unscharf. Die Unschärfe
… ergibt sich vielmehr schon daraus, dass wir es in Gemeinwohldiskursen mit einem ganzen Bündel oder einer Familie von Begriffen zu tun haben, deren angemessene Verwendung jeweils abhängt von der sozialen Gruppe, über die gesprochen wird. […] Wenn also vom Wohl oder Interesse einer Gruppe die Rede ist, muss präzisiert werden, um was für eine und welche Gruppe es geht. Und was immer man genau unter einem Gruppeninteresse zu verstehen hat, klar ist, dass Gruppeninteressen konfligieren können: intern jeweils mit anderen Interessen derselben Gruppe und ihrer Mitglieder, extern mit den Interessen anderer Gruppen und von Nichtmitgliedern. Insoweit handeln Überlegungen zu Gruppeninteressen nicht nur von Fragen der kollektiven Identität und der Präferenz- oder Nutzenaggregation, sondern ebenso von Ressourcenallokation und -distribution.“
Hiebaum, C. (2021). Einleitung. In: Hiebaum, C. (eds) Handbuch Gemeinwohl. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21086-1_45-2
Und am Ende steht die Entscheidung…
Bürgerschaftliches Engagement erfordert also unter Umständen Entscheidungen von kommunalpolitischen Entscheidungsträger*innen – den gewählten Vertreter*innen in den kommunalpolitischen Gremien. Über Anliegen. Zwischen konkurrierenden oder gar gegensätzlichen Interessen. Das ist kann für beide Seiten recht spaßbefreit sein. Auch deshalb, weil die Vertreter*innen in den kommunalpolitischen Gremien Entscheidungen nur innerhalb bestimmter Grenzen treffen können. Sie sitzen gewissermaßen zwischen allen Stühlen.
Fortsetzung folgt.
Literatur:
Breyer-Mayländer, T. (2019). Marketing für Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik. essentials. Springer Gabler, Wiesbaden.
Grotz, F., Schroeder, W. (2021). Politik und Verwaltung auf kommunaler Ebene. In: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Springer VS, Wiesbaden.
Heinisch, R., Mühlböck, A. Auf die Größe kommt es an! Neue empirische Evidenz zur Wahlbeteiligung in Gemeinden. Z Vgl Polit Wiss 10, 165–190 (2016).
Holtmann, E. (2013). Parteien auf der kommunalen Ebene. In: Niedermayer, O. (eds) Handbuch Parteienforschung. Springer VS, Wiesbaden.
Holtmann, E., Rademacher, C., Reiser, M. (2017). Folgen lokale Wahlen ihren eigenen Gesetzen?. In: Kommunalpolitik. Elemente der Politik. Springer VS, Wiesbaden.
Vetter, Angelika, und Uwe Remer-Bollow. 2017. Bürger und Beteiligung in der Demokratie: Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
Vetter, A., Remer-Bollow, U. (2017). Wahlen und Wahlbeteiligung. In: Bürger und Beteiligung in der Demokratie. Grundwissen Politik. Springer VS, Wiesbaden.
können manchmal ziemlicher Blödsinn sein, da werden Wahlbeteiligung und Stimmanteile bei der Bundestagswahl mit denen bei einer Oberbürgermeisterwahl zusammengebracht und aus den Unterschieden irgendwelche Tendenzen herausgelesen.
Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg spricht im Monatsblatt 3/2019 von einer Wahlbeteiligungshierarchie. Das heißt: Die Beteiligung an Wahlen in Deutschland unterscheidet sich zwischen den verschiedenen Wahlarten deutlich, am höchsten rangiert die Bundestagswahl, am Ende der Wahlbeteiligungskette kommen Europawahl, dann die Kommunalwahl und ganz zum Schluss die Bürgermeisterwahl. Der langhöchsten rangiert die fristige Trend verweist auf einen Rückgang insgesamt und (!) je kleiner die Gemeinde, desto höher die Wahlbeteiligung und umgekehrt. „Die niedrigsten Beteiligungsquoten werden in Städten mit 50 000 bis unter 100 000 Einwohnern (durchschnittliche Wahlbeteiligung: 36,7 %) und in Großstädten von 100 000 bis unter 500 000 Einwohnern (durchschnittliche Wahlbeteiligung: 36,1 %) gemessen.“ Ausnahme: Stuttgart.
Quelle: https://statistik-bw.de/Service/Veroeff/Monatshefte/PDF/Beitrag19_03_05.pdf…
Für Sachsen habe ich solche Erhebungen nicht gefunden, aber es ist eine Recherche wert.
Wie erklärt sich das? Grundsätzlich scheint es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Kandidierenden und der Wahlbeteiligung zu wählen. Kurz gefasst: weniger Auswahl – weniger Wählende. Eine Studie zu den Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg zeigte, einen Zusammenhang zwischen der Knappheit des Ergebnisses und der Wahlbeteiligung. Übersetzt: Spannung erhöht die Beteiligung. Erscheint den potentiellen Wählenden die Wahl schon entschieden, dann gehen sie nicht zur Urne. Man könnte hier weiter interpretieren: sind Wählende nicht überzeugt von den Chancen derjenigen Person, die sie aufgrund ihrer Einstellungen und Haltungen am ehesten ihre Stimme geben würden, so lassen sie es unter Umständen sein. Wahlkopplung hilft, es gibt also auch bei Wahlen Mitnahmeeffekte. Würden also Bürgermeisterwahlen (am wenigsten interessant) zeitgleich mit der Bundestagwahl (hochinteressant) stattfinden, entspräche die Wahlbeteiligung bei der Bürgermeisterwahl der Beteiligung bei der Bundestagswahl.
Auf der Individualebene zeigt sich: arme Menschen gehen seltener zur Wahl. Ein (gefühlt) gutes Einkommen geht einher mit der Zufriedenheit mit der Demokratie und wirkt sich positiv auf die Motivation aus, wählen zu gehen. Das aber hat eine gewisse Tragik.
Etwas zum Nachlesen: Walther, J. (2017). Faktoren zur Erklärung von Wahlbeteiligung und Kandidatenzahl. In: Mehrheitswahlsysteme . Springer VS, Wiesbaden.
So ganz bestätigen sich die Baden-Württemberger Erkenntnisse nicht. Europa scheint für die Dresdner Wählenden doch weit weg, dennoch lässt sich eine Wahlarthierarchie auch hier feststellen. 2024 wird sich zeigen, ob die Wahlbeteiligung auf dem Niveau von 2019 verbleibt.