Trigger meinen in der Medizin und in der Psychologie Auslöser für etwas. Für Symptome oder Empfindungen oder Affekte oder alles zusammen. „Wir“ respektive „unser Kandidat vertritt die bürgerliche Mitte“ ist so ein Trigger, ganz besonders, wenn mainsplainend vorgetragen oder -geschrieben. So markig. Dieser Trigger löst ein Missempfinden aus und das dringende Bedürfnis des (selbstverständlich wohldurchdachten) Widerspruchs.
Nun also: Was oder wer ist diese mystische bürgerliche Mitte, immer dann benannt, wenn gefühlt eine Quasimehrheit als Referenzrahmen für Machtansprüche angerufen werden soll. Der Mensch tendiert irgendwie zur Mitte (unter anderem deshalb sollte man in Umfragen besser gerade Skalen wählen). Mitte klingt so ausgewogen und gemütlich und kuschelig. Am Rande der Gesellschaft ist es ungemütlich, da droht Exklusion (oder Exklusivität), politisch müsste man sich irgendwie positionieren. Wo also ist die bürgerliche Mitte und wo sind die nichtbürgerlichen oder unter-, ober-, links- oder rechtsbürgerlichen Nichtmitten?
Es geht um Menschen. Und es scheint um Menschen mit gewissen Ähnlichkeiten zu geben, Ähnlichkeiten in politischen Einstellungen und in ihrer Lebenswelt. Wir reden von Schichten, Klassen, Milieus oder – ganz im Duktus der bürgerlichen Mitte: „Lebenswelten“. Es gibt eine ganze Reihe theoretischer Ansätze, die sich mit der Frage ähnlicher Lebenswelten befassen. Bekannte Namen dürften Norbert Elias, Pierre Bourdieu, Stefan Hradil, Helmut Bremer, Emile Durkheim, oder Gerhard Schulze sein. Es heißt zwar immer, mit Soziologie kann man bestenfalls in einer Bar oder als Taxisfahrer arbeiten, man kann aber mit Soziologie auch richtig Geld verdienen, in dem man ein Modell wirtschaftlich nutzbar macht. Stichwort Zielgruppenforschung. Die Sinus-Milieus sind der nach eigener Aussage der „Goldstandard der Zielgruppensegmentation“ und fassen „Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu Gruppen Gleichgesinnter zusammen„. (An der Stelle sei erwähnt: als Sozialwissenschaftlerin hege ich eine gewisse Skepsis, aber das tut für das Anliegen des Textes nichts zur Sache.) Und siehe da, es GAB ein Milieu mit dem Namen „bürgerliche Mitte“. Bis 2021. In der Veröffentlichung der Sinus Milieus 2021 schreibt das Institut vom „Ende der Bürgerlichen Mitte wie wir sie kannten„. Weiter heißt es: „Das Adaptiv-Pragmatische Milieu rückt an die Stelle der abstiegsbesorgten Bürgerlichen Mitte ins Zentrum des gesellschaftlichen Mainstreams. Die Nostalgisch-Bürgerlichen ziehen sich in ihre Nische zurück und werden zunehmend systemkritisch.“ (Ups. Systemkritisch. Will man sich auf diese Wählerschaft berufen und für sie stehen?)
Von welchen Größenordnungen ist die Rede? Das verendete bürgerliche Mittenmilieu umfasste etwa 13% der Bevölkerung. (Quelle: Hempelmann, H., Flaig, B.B. (2019). Die Bürgerliche Mitte. In: Aufbruch in die Lebenswelten. Springer VS, Wiesbaden, S. 177ff.) Der neue Mainstream gibt SIGMA mit einer Größenordnung von 12% der Bevölkerung an. https://www.sinus-institut.de/media-center/presse/sinus-milieus-2021
Die Bertelsmann-Stiftung hat 2017 eine Analyse Verteilung der Wählenden auf die Sinus-Milieus beauftragt (damals gab es diesen Typus als Sinus-Milieu noch). „Im Kampf um die bürgerliche Mitte macht die AfD vor allem der CDU/CSU Konkurrenz. In diesem Milieu erreichte die AfD ein Wahlergebnis von 20 Prozent, ein Zuwachs gegenüber 2013 um knapp 15 Prozentpunkte. In gleichem Umfang hat die CDU/CSU hier an Stimmen verloren und somit den höchsten Verlust aller Parteien in einem Einzelmilieu erlitten. Insgesamt haben in der bürgerlichen Mitte etwa 40 Prozent aller Wahlberechtigten entweder gar nicht oder die AfD gewählt.“
Sagen wir mal so: bürgerliche Mitte als Referenzrahmen heranzuziehen, ist ein bisschen riskant. „Wir stehen für die bürgerliche Mitte“ kann nämlich heißen: „Wir stehen für 12% der Menschen.“ Nun spielt bei einer Wahlbeteiligung von um die 50% schon die Mobilisierung von Wählenden eine Rolle. Lässt sich da vielleicht was mit der bürgerlichen Mitte anfangen? Auch da gibts was von Sinus, nämlich eine Studie zur Wahlbeteiligung der verschiedenen Milieus zur Bundestagswahl 2017: Wahlbeteiligung sozialer Milieus bei Bundestagswahl | Statista. Spoiler: Die Wahlbeteiligung unterscheidet sich deutlich und die damals noch jüngere bürgerliche Mitte war nicht der Spitzenreiter.
Und noch ein Zitat vom April 2021 in Bezug auf die Bundestagswahl, welches sich im Nachgang als nicht ganz so falsch erwiesen hat: „Wahlen werden nicht mehr in der Mitte gewonnen, sondern im Dreieck der Sinus-Milieus der Performer, Liberal-Intellektuellen und der beiden jungen Zukunftsmilieus der Expeditiven und Adaptiv-Pragmatischen. Entscheidend ist die Mobilisierung und die sowohl rationale als auch emotionale Anziehungskraft in diesen politisch interessierten und mental offenen Sinus-Milieus. Wahlentscheidend könnte sein, wer die Wanderungsströme dieser Milieus zwischen Grünen, CDU, FDP und SPD am besten für sich gewinnen kann„.